Jan Michaelis "Sankt Petersburg - literarisch "
Reisereportage
Sankt
Petersburg. Am 9. Mai auf dem Newskij Prospekt 14 wollen sich alle vor
dem
Schild fotografieren lassen. Auf einer blauen Fläche steht in
weißen
kyrillischen Buchstaben: „Diese Straßenseite ist
gefährlicher als die andere.“
Die Warnung ist aus der Zeit der Blockade von Leningrad im zweiten
Weltkrieg
durch die Nazis. 900 Tage war die Stadt abgeschnitten. Unser
Reisebegleiter in
Sankt Petersburg, Leo Litz, führt uns zu dieser Inschrift, die
heute wie eine
Gedenktafel ist. Davor sind auf mehreren Ebenen Blumen und
Blumengebinde
abgelegt. Immer wieder werfen sich die Menschen davor in Pose, lassen
sich
durch Freunde und Familienangehörige fotografieren. Litz gibt uns
zu denken:
„Hier ist die Geschichte überall lebendig. Auf Schritt und Tritt.“
Sankt
Petersburg feiert den Tag des Sieges mit Paraden. Eine ist gerade
vorbei. Wo
vor den Geschossen der Nazis gewarnt werden mußte, herrscht jetzt
das Treiben
eines Volksfestes. Eine verwirrte Frau hält eine Fahne hoch und
nimmt dann
einen Schwung der Nelken, rennt damit auf die andere Straßenseite
und verteilt
sie dort an die Fußgänger. Auf der Straßenseite, wo es
nicht so gefährlich war.
Die
ganze Stadt ist geschmückt mit Fahnen und Plakaten auf denen
steht: „Der große
Sieg. 60 Jahre.“ Ich kaufe bei einem Händler eine Mütze, auf
der steht: „Tag
des Sieges“. Leo Litz ist ein Volksdiplomat, wenn er betont: „Die
Deutschen
haben soviel gutes für die Stadt getan, sie haben Sankt Petersburg
geliebt.“
Hier wird sehr genau unterschieden zwischen Nazis und Deutschen.
Um
16 Uhr 10 ertönt unerwartet Musik aus den Lautsprechern. Es ist
eine Anlage,
die im Krieg benutzt wurde um die Leningrader zu informieren. Heute ist
die
Lautstärke intensiv. Die Musik ruft die Menschen für die
Parade der Veteranen
zusammen. Entsprechend stark ist das Gedränge am Newskij Prospekt.
Noch ist
hier kurz vor 17 Uhr keine Parade der Veteranen zu sehen. Aber schon
eine
Parade der Sankt Petersburger. Es scheint als sei die ganze Stadt auf
den
Beinen. Alles säumt die Prachtstraße. Die eigentliche Parade
zieht in einer
halben Stunde an unserem Platz vorbei. Sprechchöre setzen ein:
„Danke, Danke.“
Kleine Mädchen werden von den Sicherheitskräften
durchgelassen. Die Mädchen
drücken ihre Blumensträuße in die Hände der
Veteranen. Dann huschen sie zurück
durch das Spalier der Millionen, die ihren Dank ausdrücken.
Werden
die Veteranen nach der Parade zum 60. Jahrestag des Sieges über
die Faschisten
in die Satellitenstädte abgeschoben? Sankt Petersburg ist in 20
Bezirke
eingeteilt. Der Krasnogwardejsker Bezirk gehört mit 336 000
Bewohnern zu den
größten der Stadt. Wir sprachen mit Swetlana Kullarowa, der
stellvertretenden
Bezirksbürgermeisterin.
Frau
Kullarowa ist eine gepflegte, stattliche Frau. Sie erzählte mit
verhaltenen
Gesten. Ihr Büro sieht wie die Bürgermeisterbüros
anderenorts aus. Doch
auffallend sind die Plakate und Fahnen zum 60. Jahrestag des Sieges.
Frau
Kullarowa erläuterte: „Diese Plakate wurden nicht extra für
Sie aufgehangen,
dass ist ein Rest von den Feierlichkeiten.“ Mehr als 30 000 Bewohner
des
Krasnogwardejsker Bezirks sind Veteranen. Die vergangenen zwei Jahre
wurden sie
alle mit einer Medaille ausgezeichnet. Frau Kullarowa: „Wir haben einen
Rundgang gemacht, um keinen zu übersehen.“ Unter den Veteranen
waren 7000
persönlich im Einsatz. Der Rest sind die Kinder und die
Zivilisten.
Unvermittelt
wird Swetlana Kullarowa privat: „Mein Vater ist ein Veteran, er war
Soldat und
hat ein Bein verloren. Meine Mutter war eine Krankenschwester. Die
Geschichte
bleibt lebendig.“ Der Vater träumt sich immer noch beim Angriff.
Es ist eine
andere Perspektive auf den Krieg. „Wenn jetzt gesagt wird unsere
Veteranen
leben schlechter. So haben wir andere Maßstäbe.“ Die
Bürgermeisterin zählt dann
die Programme zu Gunsten der Veteranen auf. Ein Programm bietet ihnen
kostenlosen Urlaub. Die Rente für die Veteranen wurde verdoppelt.
Und in diesem
Jahr kommt ein neues Programm hinzu. Schon zwei Tage nach der
Veteranenparade
fand eine Sitzung statt: „Da wurde von der Bürgermeisterin von
Sankt Petersburg
beschlossen, dass die Politik zu
Gunsten der Veteranen weitergeht.“ Für Kullarowa sind die sozialen
Systeme
gestärkt. Ein Programm organisiert die notwendige Hilfe. Das Geld
kommt vom
Staat und von Kaufleuten. Gerade einen Tag nach der Parade wurde
fünf Leuten
geholfen mit 50 000 Rubel für jeden.
In
den 50 Schulen des Bezirks gibt es 15 Museen zur Geschichte der Stadt.
Die
Leute gehen dort hin, um die Veteranen erzählen zu hören.
Kullarowa betont: „In
meinem Bezirk sind die Veteranen häufig in Schulen und
Hochschulen. 2500
Veteranen werden zuhause besucht und bedient. Dass heißt, sie
sind überhaupt
nicht vergessen.“ Die Veteranen wurden bei der Parade mit
Sprechchören: „Danke,
Danke“ bedacht. Nach der Parade sind sie gerngesehene Zeitzeugen. Von
einem Hotel
gucken wir am späten Abend das Feuerwerk zur Feier des Sieges. Die
Menge auf
der Straße und an den Ufern bejubelt jeden Funkenregen. Die Leute
freuen sich
ganz anders als bei uns.
Das
Leben läuft weiter. Und das Tempo in Sankt Petersburg ist schnell.
Es ist wie
in einem Ameisenhaufen. Leo Litz erklärt: „Was in Sankt Petersburg
schwer ist?
Die Entfernungen sind groß. Die Fortbewegung kostet viel Zeit.“
Trotzdem nehmen
die Russen sich viel Zeit für Gespräche bei Tee. Sankt
Petersburg scheint
beherrscht von einem Tempo und einer Hektik. Die Rolltreppen zur Metro
gehen
schneller und tiefer als bei uns. Leo Litz räumt ein: „Wir leben
schneller. Das
gehört zu einer Großstadt.“
Sankt
Petersburg ist eine herrschaftliche Stadt, die Gebäude sind
Paläste und Schlösser.
Oder Kathedralen. An den Fassaden halten Atlanten und Kolosse die
Zarenpracht,
die auf dem Moor gebaut wurde. Straßen, Alleen, Boulevards,
Prachtstraßen
durchziehen die Stadt nach den Vorgaben ihrer Planer geradeaus.
Überall
dominieren gerade Blickachsen. Soviel Menschen und der Ausblick weitet
sich
über die Sichtachsen. Der Blick findet keinen Halt: immer
geradeaus. Leo Litz
fordert uns auf zu staunen: „Diese Weite, diese Breite!“ Sankt
Petersburg ist
eine europäische Großstadt. Wenn eine Pferdekutsche
vorbeitrappelt, ist es wie
Wien. Geradeaus! Wenn man vor dem Hotel Angletterre steht, ist es wie
Paris.
Geradeaus! An den Brücken und Kanälen, ist es Venedig.
Geradeaus! Die Frauen
bevorzugen kurze Röcke und hohe Absätze. Den Blick geradeaus!
Wo gibt es diese
Weite? Diese Weite. Diese Breite. Diese Frauenbeine. Das gibt es nur in
Sankt
Petersburg. Leo Litz kennt die russischen Frauen: „Diese Spielzeuge
sind sehr
teuer. Erst kosten sie dich ein Lachen. Dann bezahlst du mit
Tränen. Dann
lachst du Tränen.“ Dann philosophiert er über die
uneinholbare Sehnsucht der
russischen Frauen mit der sie einen nach einigen Jahren Ehe
konfrontieren um
sich dann von ihren Männern zu trennen. Wir gehen in die Operette
im Sankt
Petersburger Theater für Musikkomödie. Das einzige Theater,
dass wegen der
Belagerung nicht aufgehört hat zu spielen. Alle haben gespielt,
obwohl die
halbe Truppe schon verhungert war. Heute geben sie eine unvollendete
Operette
von Strauß. Der Dirigent Andreij Alexejew begrüßt uns.
Wir genießen die hervorragenden
Tanzszenen. Da fällt mir auf, dass die Frauen im
Straßenbild, die Beine der
Tänzerinnen haben. Die ganze Inszenierung ist sehr frisch und
erinnert an eine
Revue. Die Sänger kommen gut über das Orchester. Die
Ausstattung ist
unaufdringlich. Die darstellerische Leistung steht im Vordergrund. Das
Bühnenbild ist schmerzlos modern. Das Orchester ist makellos. Was
hier geboten
wird in der Italjanskaja Uliza 13 ist Spitzenleistung. Wir sind die
einzigen
Ausländer im Publikum. Eine russische Operette ist für
Touristen zu sperrig.
Auch wir haben Verständnisschwierigkeiten. Die Deutschen
hießen wegen ihrer
Russischkenntnisse spöttisch „die Stummen“ im Russischen. Egal,
mir bleibt
sowieso die Sprache weg, ich kann nur Staunen. Und Beifall zollen.
Vom
Operettentheater ist es nur fünf Fußminuten bis zum „Haus
der Freundschaft“.
Der Lionsclub „Riona“ besteht seit zehn Jahren in Sankt Petersburg.
Berufstätige Frauen und Hausfrauen engagieren sich hier im
sozialen Bereich. Im
Palast des Graf Schuwalow, dem heutigen „Haus der Freundschaft“
residiert der
Club in der Nähe der Prachtstraße Newskij Prospekt. Das
Gebäude hat eine
außergewöhnliche Geschichte und war Zentrum internationaler
Arbeit. Hier
residieren seit 1965 staatlich unterstützte Assoziationen und
ehrenamtliche
Verbände. Margaret Mudrak ist stellvertretende
Distriktgouvernörin der Lions.
Sie erklärt das Engagement in Sankt Petersburg: „Unser Club
befördert
wohltätige Einrichtungen für Straßenkinder und
Waisenkinder. Sie erhalten von
uns eine vorübergehende Unterkunft. Der Club ist sehr engagiert
mit
Waisenheimen, wir besuchen die Waisen dort und wir holen die Kinder
hier
her, um mit 400 Kindern Weihnachten zu
feiern.“ Die Lionessen haben 19 bis 23 Mitglieder. Frau Mudrak nahm
Gastgeschenke aus Monheim entgegen. Dies ist eine typische Geste in
Rußland.
Eine Kaffeetasse und ein Kugelschreiber von Marke Monheim erinnern an
den Gast
aus Deutschland. Mudrak weiß das zu schätzen: „Wir sammeln
in Rußland und
international Spenden und kaufen dann hier Socken und Mäntel
für die Kinder.
Die Notunterkünfte sind zwar keine Dauerlösung. Aber an den
Festen sind alle
Kinder sehr glücklich. Ein Deutscher spendete Computer für
die Kinder.“ Die
Möglichkeiten des sozialen Engagements in Rußland sind
vielfältig. Ein
norwegischer Verein spendet für ein spezielles Waisenhaus. Ein
Hamburger Club
unterstützt die Veteranen. Mudrak sieht dabei große
Vorbilder: „Die Veteranen
gehen jetzt nach Berlin und Hamburg. Es ist ein Dialog wie er von
Schröder und
Putin gestartet wurde, der Petersburger Gespräche genannt wird.“
Kaum
sind die Feiern zum Sieg vorbei, da reiht sich schon ein weiteres
Großereignis
ein. Das fünfte Mal in Folge feiert Sankt Petersburg Karneval wie
im Rheinland.
Zum Stadtjubiläum am 28. Mai fand der Straßenumzug statt.
Auch in Sankt
Petersburg wird die Krawatte abgeschnitten. Tamara Dmitritschenko
schmunzelt:
„Obwohl wir das zweite Jahr eine Bürgermeisterin haben. Sie
bekommt ein Tuch
umgebunden, das wird abgeschnitten.“ Vor fünf Jahren ist Sankt
Petersburg als
Hauptstadt des Karneval in den weltweiten Verein des Karnevals
aufgenommen
worden.
Dmitritschenko
ist für die Durchführung des Straßenkarnevals in dem
Krasnogwardejsker Bezirk
zuständig. Dieser hat sich zur Hochburg entwickelt und lockt 2,5
Millionen
Zuschauer in den Stadtteil von Sankt Petersburg. Dmitritschenko
versucht auch
die sozialistischen Traditionen weiterzutragen: „Wir sind stolz, dass
wir in
unserem Bezirk kreative Kollektive haben.“ Fußgruppen und Wagenbauer sind in Sankt Petersburg
„Kollektive“. Die Kulturfrau
ist sich sicher: „Das Niveau der schöpferischen Kollektive ist
hoch, egal ob
sie das beruflich oder als Hobby machen.“ Jedes Jahr wird den
Kollektiven ein
Thema angeboten. Ein Motto war Katharina die Große. Es gibt einen
Wettbewerb:
Wer macht es am besten? Die ganze Stadt kommt, um das anzusehen, weil
die Züge
sehr attraktiv sind.
Als
Leiterin der Kulturabteilung ist Frau Dmitritschenko für
zwölf Büchereien, 20
Clubs für 3800 junge Leute, zwei Musikschulen, zwei
Kulturhäuser für die Schule
und den Straßenkarneval zuständig. Dmitritschenko skizzierte
die Veränderungen
im Kulturbereich: „Vor der Perestroika gab es wirklich eine kostenlose
Kultur.
Nach der Perestroika kam der Markt. Jetzt hat sich das Showbusiness in
die
Kultur gedrängt.“ Bisher kostenlose Veranstaltungen müssen
die Miete
einspielen. Der Straßenkarneval kommt ohne Miete gut weg. Sankt
Petersburg ist
eine europäische Großstadt. Eine rheinische Metropole.
Teures
Spielzeug- Eine Erzählung in
Briefen
16.
Juni
Hier
zu sein ist ein himmelweiter Unterschied. Diese Weite und Breite bin
ich von
Deutschland gar nicht gewohnt. Ich glaube es wird ein schönes
Leben hier in
Sankt Petersburg als Junggeselle und Auslandskorrespondent. Ich bin
erst im
Hotel abgestiegen. Gegenüber des Hotels liegt der Panzerkreuzer
Aurora. Den
Schlüssel zum Appartement bekomme ich erst morgen. Mein Blick geht
über die
Häuser und eine Kirche mit vergoldeter Kuppel und eine einzelne
Spitze eines
Turms, der auch vergoldet ist. Irgendwo dort rechts steht der eherne
Reiter.
Der
Flug war kurz von Berlin. Aber im Büro ist heute keiner mehr
anzutreffen
gewesen. Deshalb setzte ich mich in die Bar des Hotels. Dort spielte
eine Band.
Die Sängerin sang schön auf russisch. Ich wartete auf das
Essen, der Platz mir
gegenüber war leer. Da kann einen schon eine Traurigkeit
überfallen. Die Suppe
kam. Der Service war gut, jeder Teller wurde von rechts hingestellt.
Die Band
spielte ein Zigeunerstück und die Sängerin forderte mich zum
Tanz auf. Ein
älteres Paar gesellte sich zu uns auf die Tanzfläche. Die
Sängerin ging zurück
ans Mikro. Ich tanzte noch etwas alleine. Da kam eine junge Russin auf
die
Tanzfläche. Und heute lernte ich gleich die Russen näher
kennen. Später
stellten sie und ihr Mann sich mir vor. Tatjana und Georgie. Tatjana
ist eine
blonde, schlanke Russin. Sie tanzte aufreizend. Georgie schaute ihr zu.
Mit
ihrem schönen, schlanken Körper schmiegte sie sich in meinen
Arm. Georgie rief
den Musikern zu: „Noch ein Lied.“ Er ist der Hotelmanager. Er sagte den
Musikern,
dass es ihm gefiel, dass getanzt wurde.
Georgie
ließ uns miteinander tanzen. Ich würde nie einen anderen
Mann so innig mit
meiner Frau tanzen lassen. Ich könnte das nicht ertragen. Als die
Musiker eine
Pause machten lud mich Georgie zu sich an den Tisch und wir tranken
Wodka
„Standard“ aus Karaffen. Georgie sprach nach einigen Gläsern
über die
russischen Frauen: „Es sind teure Spielzeuge. Erst machen sie dich
lachen, dann
weinen, dann lachst du Tränen.“ Tatjana ist kein Spielzeug.
19.Juni
Die
Ameisenbewegung geht so den ganzen Tag. Wir leben schneller, das
gehört zu
einer Großstadt. Die Rolltreppen zur Metro sind schnell und tief.
Ich war mit
Georgie und Tatjana verabredet. Mein Appartement liegt außerhalb,
ich muß die
Metro nutzen. Wenn hier etwas schwierig ist, dann sind es die
großen
Entfernungen. Man braucht viel Zeit um ans Ziel zu kommen. Die beiden
schlenderten mit mir zu einem Markt. Noch einige Straßen weit weg
davon
entdeckte ich einen leeren Sockel. Hier stand wohl einmal Lenin, jetzt
war auf
den Sockel „Der unsichtbare Mann“ gesprüht. Ich kletterte hinauf
und zog
Georgie zu mir hoch. Wir stellten ein Denkmal der Freundschaft. Mit
Händedruck
und gutmütiger Umarmung. Tatjana fotografierte uns mit ihrem
handy. Georgie
kann genau ein deutsches Wort: „Freundschaft“. Er fragt mich: „Warum
sollten
sich Brüder bekämpfen?“
Auf
dem Markt ist die Mafia. Georgie klärte mich auf: „Man kauft sich
bei ihr ein
„Dach“ und schon ist der Himmel über einem nicht mehr so weit.
Wenn man etwas
braucht, weiß man an wen man sich zu wenden hat.“ Die
Bürgermeisterin will alle
Märkte schließen. Waren sollen in Kaufhäusern angeboten
werden. Die Märkte
seien ein Schandfleck. Das Wetter ist schön. Tatjana verbesserte
mich, auf
russisch hieße es, das Wetter ist gut.
Georgie
begeistert sich für meine Arbeit als Auslandskorrespondent. „Du
wirst sehen,Sankt Petersburg ist eine unerschöpfliche Quelle.
18.August
Ich
hatte mir auf dem Markt einen kostbaren Dolch gekauft. Der liegt seit
damals
neben meinem Bett. Ehe ich das Licht ausknipse, spiele ich mit dem
Gedanken,
mir die scharfe Spitze ein paar Zentimeter in die Brust zu stechen. Ich
leide
so, nie habe ich so gelitten. Tatjana ist so schön. Sie arbeitet
als
Krankenschwester. Wir sehen uns gelegentlich. Ich versuche es so oft
wie
möglich einzurichten. Meistens genügt ein kleiner Vorwand.
Als Journalist bin
ich auf Informanten angewiesen. Tatjana sagte zu mir: „Du hast keinen
Bären bis
jetzt gesehen.“ Dann griff sie meine Hand und schlenderte mit mir in
einen
Park. Dort tollte ein Bärenjunges an einer Leine. Tatjana blieb
entzückt
stehen. Ich sagte, es sei eine Tierquälerei. Aber Tatjana
beschwichtigte mich,
es sei gar nicht so schlimm. Sankt Petersburg erinnerte mich an Wien
als eine
Pferdekutsche vorbei trappelte. Vor dem Hotel Anglettere fühlte
ich mich wie in
Paris. Aber nirgends fand ich diese Weite. Der Himmel ist weit. Die
Hölle ist
nah. Es ist eine unmögliche Liebe. Wenn sie doch nur sich für
mich entscheiden
könnte. Aber es scheint ihr Spaß zu machen sich einen
Geliebten in mir zu
halten. Georgie hat es längst bemerkt. Tatjana hatte angedeutet:
„Ich habe so
eine Sehnsucht.“ Neulich sagte er im Suff: „Sei gut zu ihr, sie ist
meine
Frau.“ Wie ich aus der Metrostation auf den Vorplatz trete, gucke ich
nach
oben. Der Himmel weitete sich über mir. Ich kam mir unvermittelt
so
bedeutungslos vor.
10.September
Tatjana
und Georgie besuchen mit mir den Literatenfriedhof. Georgie
läßt uns nicht aus
den Augen. Er redet von der Belagerung von Leningrad. Dann zeigt er mir
das
Grab von Olga Bergholz, die viele Gedichte während dieser Not
geschrieben hat
und die Muse der belagerten Stadt genannt wird. Hier liegen wirklich
die
Titanen der russischen Literatur. Die Namen kenne ich aus dem Studium.
Und ihre
Werke sind mir vertraut. Wir sprechen über den Tod. Georgie meint,
dass käme
später. Aber Tatjana nimmt meine Hand und fragt mich, ob wir uns
wohl
wiedersehen werden. Ich bejahe. Wir werden uns wiedersehen. Sie ahnt
etwas.
Georgie kann unseren Gedanken über den Tod und das Jenseits nicht
folgen. Er
verliert die Geduld mit uns und schimpft: „Ihr redet wie Wasser in
einem
Fleischwolf.“
7.Oktober
Endlich war ich mit
Tatjana allein. Wir bummelten wie Verliebte durch daszoologische
Museum. Andere Paare waren mit uns dort. Und ein Großvater mit
seinem Enkel. Familien mit Kindern. Freundinnen. Schulklassen unter dem
strengen Regime einer Frau mit Zeigestock. Das Skelett eines Wals
füllte den
ersten Raum. Dann in den hinteren Räumen blieb Tatjana vor einem
Waran stehen.
Der hatte einen langen, geschwungenen Schwanz und ein geschlossenes
Maul. Die
Zunge sah man nicht. Teilweise waren die Tier in ihren
Lebensräumen
präsentiert. Wildschweine im Winter und im Frühling. Geier am
Aas. Rochen wie
fliegende Vögel in einer Unterwasserlandschaft. Der andere Teil
der Sammlung
war auf Klassifizierung aus. Alle Tiere waren auf Sockeln in Vitrinen
aufgereiht. Tatjana fragte mich: „Diese vielen Tierbabys, sind sie alle
getötet
worden für diese Sammlung?“ Ich mochte ihr nicht antworten. Wir
gingen noch
spazieren und kamen zum ehernen Reiter. Tatjana, zeigte mir am Sockel
des
Standbildes wie das Pferd die Schlange zertritt. Sie erzählte mir:
„Das ist
symbolisch, Peter der Große zertritt Schweden.“ Von hier aus
weitet sich der
Himmel über der baltischen See. Wo gibt es diese Weite. Und doch
fühlte ich
mich in die Enge getrieben.
24.Dezember
Liebe Frau
Plötz, diese Notizen fand ich im Appartement ihres Sohnes Karl.
Erist leider gestorben und sein letzter Wille, war es, auf dem Friedhof
neben dem
Literatenfriedhof beerdigt zu werden. Karl hatte einen Abschiedsbrief
hinterlassen, der als sein Testament gelten muß. Sein
Selbstmordversuch ist
gescheitert. Aber er wurde in das Krankenhaus eingeliefert, in dem ich
als
Krankenschwester arbeite. Dort stellten die Ärzte bei Karl Krebs
fest. Er war
nicht mehr zu retten. Es dauerte nur drei Wochen bis er tot war. Es tut
mir
sehr leid Ihnen erst jetzt dies mitteilen zu können. Wir, mein
Mann Georgie und
ich haben Karl sehr geliebt. Aber wieviel mehr muß er ihnen
bedeuten. Bitte
seien Sie nachsichtig mit mir, seiner Geliebten hier in Sankt
Petersburg. Ich
wollte doch meinen Mann nicht verlassen. Mein Georgie hatte alles
akzeptiert.
Er ist nicht so stark. Er ist ein guter Hotelmanager aber ein weicher
Ehemann.
Karl war da ganz anders. Karl wollte mich nicht mit Georgie teilen.
Dann wollte
er lieber nicht mehr leben. Wie seltsam doch das Schicksal spielt.
Ausgerechnet
Karl ist an Krebs gestorben. Damit hatte er selber überhaupt nicht
gerechnet. Deshalb
waren auch keine Vorbereitungen getroffen worden. Erst jetzt konnten
wir die
Wohnung räumen und fanden diese Schriften. Ich denke sie halten
ihn damit in
Ehren. Ich glaube er hat damit Literatur geschaffen. Ich kann ein wenig
Deutsch, weil ich in der DDR noch in einem Krankenhaus gearbeitet
hatte.
Entschuldigen Sie meine schlechte Ausdrucksweise.
Mein
herzliches Beileid
Tatjana
Andreewa Alexejewa
P.S.
Für Karl ist der Himmel weit offen.
Gedicht: Hier bin ich Analphabet
Ich kann die
kyrillische Schrift nicht.
Hier bin ich
Analphabet.
Hier herrscht
Moskauer Zeit.
Ich kaufte eine
Lackdose.
Die Souvenirs sind
russisch.
Die Spielhöllen
sind international.
Hier wird italienisch
gekocht.
Und ein russisches
Nationalgericht.
Zur Pizza noch
Borscht als Menü.
Der Regen ist
naß wie in Deutschland.
Das Wetter ist nicht
„schön”, sondern „gut”,
sagt man auf russisch.
Gedicht: Wilde Touristen
Guck
die sind leichte Beute
Wilde
Touristen allein
im
Großen Kaufhof
Mit
vollen Einkaufstaschen
Das
riecht nach Geld
Und
ihre Kamera trägt sie offen
Die
schnapp ich mir
Ich
öffne einen Reißverschluß
Ich
auch ich kratzte sie am Arm
Ihre
Uhr bekomme ich
Ich
laß den Kerl höflich
In die
Metro rein
Dann
drängen vier von uns
die
Frau auf den Bahnsteig
Die
konnte schreien
Ihr
Kerl hat uns das Spiel verdorben
Der hat
sich zu ihr durchgekämpft
Mir
schmerzt der Kopf
Sie
traf mich mit der Kamera
Die
hatte ich schon fast gepackt
Uns
blieb nur Flucht
Ja
dieser Not gehorchten wir,
nicht
dem eigenen Trieb
Da
hätte ich zu gerne
Gezückt
mein Messer
Aber
lassen wir es nur bei Raub
Was
hast Du? Nichts.
Die
anderen? Nichts.
Wir
haben keine Beute
Ich hab
was
das ist
schon gut zu fühlen
eine
Beule
Gedicht: Die Muse der Belagerung
Auf dem
Literatenfriedhof
Liegen
Tote, die waren vorher lebendig
Aber
unser Leben haben sie nicht gelebt
Sondern
der Not gehorchend, nicht dem
Eigenen
oder doch dieses brachten sie ein
So war
Olga Bergholz die Muse
Der
belagerten Stadt
Viele
Gedichte hat sie geschrieben
Sie
lebte von neunzehnhundertzehn
Bis
neunzehnhundertfünfundsiebzig
Auf
ihrem Grab liegen
Nelken,
Rosen und Blumengebinde
Ihre
Bronzefigur mit Buch in der Hand
Steht
noch am Fenster wie sie es tat
Nun
teilt sie Bedeutung und Berühmtheit
Mit der
Familie Lenins
Steht
da die Mutter als volle Figur
Die
Schwestern als Porträt und als Relief
Der
Schwager als Porträt
Dort
ein Dressurreiter, eine Ballerina
Zwei
Grabzeilen weiter schreiben noch immer
Literaten
deren Namen und Werke
Den
russischen Schulkindern geläufig sind
Die Not
von Revolutionen
Gab die
Befehle für Gräber
Denen
gehorchten die Toten
Nicht
dem eigenen Drang
Sondern
Umwandlungen
Fortschreibungen
in das
Goldene
Buch dieses Grabes
Sieh Du
Dich um, das kommt später
|